Friedensethik 2002
Thesen der Bayerischen Pfarrbruderschaft/Theologischen Weggemeinschaft
im Auftrag des Bruderrats verfasst von Dr. Holger Forssman, Dr. Werner Göllner, Werner Schanz und Hans Harald Willberg.
Im beginnenden dritten Jahrtausend stehen wir vor einer neuen friedensethischen Herausforderung.
Die großen Blöcke, die in den Jahrzehnten bis 1990 die Welt gespalten haben, sind aufgelöst. Der Golfkrieg und die Balkankriege waren erste Hinweise darauf, dass Kriege seither wieder als lokal und zeitlich begrenzte Mittel erscheinen, um bestimmte Ziele zu erreichen (Golfkrieg: Entmachtung oder mindestens entscheidende Schwächung des irakischen Diktators Saddam Hussein; Balkankrieg: Beendigung des Bürgerkrieges und der Menschenrechtsverletzungen, Herstellung von Ordnung und Demokratie). Seit dem 11. September 2001 ist eine neue Dimension hinzugekommen. Kriege sind nunmehr als eine unter mehreren Maßnahmen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus im Blick. Die Verfolgung von Osama bin Laden hat zum Krieg gegen die afghanischen Taliban geführt.
Wahrscheinlich wird es weitere Ziele für kriegerische Handlungen geben: Somalia, der Sudan, der Yemen und der Irak werden genannt. In dieser gefährlichen Situation erscheint es uns besonders wichtig, über dem Handeln das Hören und das Nachdenken nicht zu vergessen. Die Sachzwänge, die von einer raschen Entscheidung zur nächsten drängen, dürfen uns nicht hindern, auf die Botschaft des Evangeliums zu hören. Im Gegenteil: Je bedrängender die Zeiten werden, desto nötiger haben wir das heilsame und erlösende Wort. Nicht, um uns aus der Welt in eine fromme Innerlichkeit zurückzuziehen, sondern um die politischen Zusammenhänge im Licht des Evangeliums zu sehen und ihren Bezug auf Gottes Heilsgeschichte zu entdecken.
Die folgenden friedensethischen Überlegungen wollen und können keine Vollständigkeit und erst recht keine Unfehlbarkeit beanspruchen. Sie sind vielmehr als ein Beitrag zum Gespräch gedacht. Erste Adressaten sind die Schwestern und Brüder der Theologischen Weggemeinschaft, der die Verfasser selbst zugehören. Die Überlegungen sollen aber auch dem Gespräch in anderen Gremien und Foren dienen und nicht zuletzt dem Austausch zwischen Vertretern der Kirche und der Politik.
1. Nach wie vor gilt der Grundsatz: "Krieg soll um Gottes Willen nicht sein."
- Die neue Situation der Bekämpfung des Terrorismus hat an der Praxis moderner Kriegsführung und ihrer tiefen Problematik nichts geändert. Darum bestehen wir auf dem Grundsatz, der 1948 auf der Weltkonferenz der Kirchen in Amsterdam formuliert worden ist: "Krieg soll um Gottes Willen nicht sein." Krieg ist die unmögliche Möglichkeit, tiefster Ausdruck menschlicher Sündhaftigkeit.
- Viele Stellungnahmen, auch von kirchlicher Seite und auch in jüngster Zeit wollen auf die Möglichkeit eines Krieges als einer "ultima ratio" gleichwohl nicht verzichten. Wenn wir uns auf diesen Gedanken einlassen, dann muss diese "letzte Möglichkeit" dem unmittelbaren, äußersten Verteidigungsfall vorbehalten bleiben. Die gegenwärtige Praxis von Vergeltungs- und Präventivschlägen lässt sich so gerade nicht rechtfertigen, sondern macht die "letzte Möglichkeit" vielmehr zum Normalfall.
- Stattdessen wollen wir die Phantasie der Nationen und ihrer Regierungen wieder auf den Frieden lenken. Was "Frieden" heißt, ist im Hören auf das Evangelium neu zu lernen. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Verteilung des Wohlstands in der Welt darf dabei nicht ausgeblendet werden. Zum Frieden gehört die Zufriedenheit aller Menschen und der Einklang mit der Schöpfung. Wahrer Frieden ist darum mehr als die Abwesenheit von Krieg, und er lässt sich auch nicht mit Gewalt und Druck herstellen oder durch Einschüchterung erzwingen. Gespräche, Verhandlungen, vertrauensbildende Maßnahmen, das Suchen von gemeinsamen Interessen und der Ausgleich der unterschiedlichen Interessen müssen an die Stelle von militärischen Maßnahmen treten.
- Das Idealbild des "sauberen Krieges" geht davon aus, dass eine Macht aufgrund ihrer technischen Überlegenheit ihre Feinde gleichsam "aus der Ferne" beseitigt und damit ihre Probleme löst. Dieses Bild entpuppt sich als schreckliche Illusion und Irreführung. Einen "sauberen Krieg" kann es nicht geben. Auch die neuen Kriege mit ihrer modernen Waffentechnologie hinterlassen unbewohnbares, verseuchtes Land, Hass und Chaos. Auch in den neuen Kriegen sterben vor allem Zivilisten, Alte, Frauen und Kinder. Diese Menschen sind es auch, die zu Hundertausenden auf der Flucht sind. Neu zu entdecken sind demgegenüber die biblischen Bilder und Verheißungen. Zum Beispiel die Verheißung der Völkerwallfahrt zum Zion: Alle Völker bewegen sich auf eine gemeinsame von Gott bestimmte Mitte zu. Sie legen ihre Waffen ab und bringen Geschenke. Diese Verheißungen sind keine Illusionen. Es gibt Beispiele und Modelle, an die wir anknüpfen können, um uns auf diesen Weg zu machen: Gandhis und Martin Luther Kings gewaltloser Widerstand oder die unblutigen "Revolutionen" im ehemaligen Ostblock.
2. Die Frage staatlicher Gewalt ist neu zu bedenken.
- Unstrittig ist die Notwendigkeit von polizeilicher Gewalt zur Verfolgung und Verhinderung von Straftaten und zur Sicherung und Herstellung von Recht und Ordnung. Freilich steht es dem Staat dabei nicht frei, "Recht" und "Ordnung" zu definieren. Wir erinnern daran, dass sich alle Gewalt letztlich vor Gott rechtfertigen muss. Sein "Recht" dient dem Schutz der Schwachen, seine "Ordnung" zielt auf das gute Leben in der Gemeinschaft der Menschen im Einklang mit der Schöpfung.
- Die jüngsten Militäreinsätze (Kosovo, Afghanistan) wurden faktisch nicht als Kriegs- sondern als Polizeimaßnahmen begründet, aber von Militärkräften und mit militärischen Mitteln durchgeführt. Folgen dieser Vermischung sind zahlreiche Verwirrungen. Wir sehen das z.B. an der Frage, ob Gefangene als Kriegsgefangene zu behandeln sind. Es erscheint uns sinnvoll, Polizei- und Militärmaßnahmen weiterhin zu trennen und eigens zu begründen: -Polizeimaßnahmen dienen der Verfolgung und Verhinderung von Straftaten, der Sicherung und Herstellung von Recht und Ordnung. -Militärmaßnahmen gelten der Landes- oder Bündnisverteidigung.
- Bisher galt eine strenge Trennung von Innen- und Außenpolitik: Für Einsätze außerhalb des Landes ist das Militär zuständig. Diese Trennung erscheint nicht mehr zeitgemäß. Kriminalität fragt nicht nach Landesgrenzen. Wir stehen deshalb vor der Frage, ob es nicht gelingen kann, eine Welt-Innenpolitik zu betreiben oder als ersten Schritt zumindest eine europäische Innenpolitik, die auch grenzüberschreitende polizeiliche Maßnahmen erlaubt.
- Im Bereich der Terrorismusbekämpfung ist es besonders wichtig, zwischen Militär- und Polizeimaßnahmen zu unterscheiden. Auch religiös oder politisch motivierte Anschläge und Attentate sind Straftaten, die teils von einzelnen, teils von ganzen Organisationen geplant und verübt werden. Die Urheber sollen verfolgt und vor Gericht gestellt werden.
3. Gegen einen "-ismus" lassen sich keine Kriege führen.
- Der Begriff des "Terrorismus" birgt die Gefahr, eine eigene Kategorie von Straftaten zu schaffen, die dann auch auch nach einer eigenen Kategorie von Reaktionen verlangt. Ganz verschiedene strafrechtliche Tatbestände wie Mord, Geiselnahme, Gewährung von Unterschlupf für Straftäter usw. werden unter diesem Begriff vereinheitlicht. In der Einstufung dieser Straftatbestände als "terroristisch", ist die Begründung für nicht erklärte Kriege oder für einzelne Kriegshandlungen jenseits von Völker- und Zivilrecht dann bereits stillschweigend enthalten. Die Plausibilität dieser Begründung gilt aber jeweils nur innerhalb einer bestimmten Gruppe, die sich selbst als mögliche Opfer eben dieses "Terrorismus" betrachtet.
- Der Begriff des "Terrorismus" trägt dazu bei, Fronten zu verhärten und Wege des Friedens zu versperren. Er sammelt eine Solidargemeinschaft von möglichen Opfern und vereinheitlicht eine Gruppe von Tätern. Diese verkürzte Wahrnehmung, die sich auch in Begriffen wie "Schurkenstaaten", oder "Achse des Bösen" widerspiegelt, verhindert eine differenzierte Wahrnehmung der eigenen wie der anderen Seite. Und sie verhindert das Eingeständnis der eigenen Schuld, das am Anfang jeder Verständigung stehen muss. Wir plädieren deshalb dafür, auf den Terrorismus-Begriff zu verzichten oder ihn zumindest von Fall zu Fall näher zu bestimmen. Die Verfolgung von Straftätern und die Verhinderung weiterer Straftaten soll auch so genannt werden. Das Ziel, Straftäter der Justiz zu überantworten und ihre Taten dort einzeln zu prüfen und zu richten, soll nicht aus dem Blick geraten. Für Straftaten, die Völkergrenzen überschreiten, ist dabei nicht etwa die Militärgerichtsbarkeit eines betroffenen Landes, sondern ein internationaler Gerichtshof zuständig.
- Überall, wo "-ismen" bekämpft werden, geht es auch um die Vorherrschaft von Ideen. In einer freiheitlichen Gesellschaft muss aber auch eine Freiheit für Ideen und Meinungen gelten. Problematisch sind deshalb alle innenpolitischen Maßnahmen, die der Verfolgung bestimmter Gesinnungen gelten. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, der Parteienbildung, der Pressefreiheit, der Freizügigkeit mögen von einem breiten Konsens gedeckt sein, schlagen aber immer auf das Wesen der freiheitlichen Gesellschaft zurück. Es ist verheißungsvoller, für die eigenen Überzeugungen zu werben, sie zu begründen und sie ins Gespräch zu bringen, als andere Überzeugungen zu unterdrücken.
4. Zu den Grundregeln einer Demokratie gehört die wahrheitsgemäße Information der Bevölkerung.
- In demokratischen Staaten handeln Regierungen im Namen des Volkes und stellvertretend für das Volk. Um das zu gewährleisten, ist eine weitestgehende Information der Bevölkerung erforderlich. Die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger müssen beurteilen können, was in ihrem Namen geschieht, wenn sie es schon nicht direkt mitentscheiden dürfen. Der Staat hat seinen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber nicht nur Informationspflicht, sondern auch Begründungspflicht. Nicht nur die Entscheidungen selber, sondern auch die Argumente dafür und die Alternativen müssen offen dargelegt werden.
- Das gilt in besonderem Maße für den Kriegsfall, wo sich ein Land einem oder mehreren Gegnern gegenübergestellt sieht. Die Absicht, mit der Krieg geführt wird, muss von Anfang an deutlich gemacht werden, damit eine öffentliche Diskussion darüber stattfinden kann.
- Die Schnelligkeit, mit der heute Entscheidungen gefällt werden müssen, ist nur zum kleineren Teil wirklich sachlich begründet. Zum größeren Teil gehört sie zu den fragwürdigen Spielregeln einer "Mediendemokratie", die in Wirklichkeit keine Mitsprache der Bürger und gesellschaftlichen Gruppen kennt, sondern nur ein Publikum. Dessen kurzfristiges Interesse an dem einen oder anderen Thema nötigt scheinbar dazu, rasch populäre Entschlüsse zu fassen, solange ein Thema noch emotional besetzt ist. Nicht nur der Frieden, auch viele andere wichtige Themen kommen zu kurz und werden nicht in angemessener Form behandelt. Statt dieses Öffentlichkeitsspiel mitzuspielen, wie es im Moment die Tendenz auch in der Kirche ist, ist es vielmehr die Aufgabe der Kirche, eine Öffentlichkeit zu fördern oder zu schaffen, in der wieder ein freier, offener Austausch über die wichtigen Fragen unserer Zeit möglich ist.
Erlangen, im März 2002