90 Jahre Bayerische Pfarrgeschwisterschaft

Frieder Jehnes 

90 Jahre Bayerische Pfarrgeschwisterschaft

- Frieder Jehnes -

 

1. Einführende Gedanken

 

1934 im Kampf der evangelischen Kirche gegen die Eingriffe des Staates und gegen die bekenntniswidrigen Ideologien jener Zeit gegründet, hat die Bayerische Pfarrgeschwisterschaft im Verlauf der letzten 90 Jahre viele Wandlungen erlebt und gestaltet. Dies zeigen schon die Veränderungen im Namen: Aus der ursprünglichen „Pfarrerbruderschaft“ wurde Pfingsten 1998 die „Pfarrbruderschaft“ als „Theologische Weggemeinschaft von Frauen und Männern“ und schließlich an Pfingsten 2022 die „Bayerische Pfarrgeschwisterschaft“ mit dem Namenszusatz „Theologische Weggemeinschaft aus der Bekennenden Kirche“.

 

Manche fragen heute, ob eine theologisch ausgerichtete Gemeinschaft nicht aus der Zeit gefallen ist, der die Erfahrungen aus der Nazizeit und die Theologie des Bekenntnisses von Barmen weiterhin wichtig ist.

Nicht nur aktuelle Entwicklungen wie das Erstarken von nationalistisch-völkischen Bewegungen, Erosion der Demokratien, Ausgrenzung des als „anders“ oder „fremdartig“ Empfundenen, ungeschminkter Antisemitismus, Zunahme von sozialem Ungleichgewicht und vermehrte Akzeptanz gewaltsamer Durchsetzung von Interessen und Ideologien legen etwas anderes nahe.

 

Was aus den kirchlichen Reaktionen auf die Ereignisse um das Jahr 1933 auch bleibt, ist die Aufgabe, über das Verhältnis von Bekenntnistreue und Pluralität nachzudenken - gerade weil die lutherische Kirche in Bayern und auch die Pfarrerbruderschaft damals ein völlig anderes Gepräge hatten als heute. Vor allem in den 60er und 70er Jahren brachen die Fragen dann ganz neu auf: Wo braucht es Widerstand gegen den Zeitgeist, und wo ist ein solcher rückwärtsgewandt, unfruchtbar oder verdeckt sogar ideologisch die Verteidigung eigener Interessen? Wo sind Veränderungen notwendig, um dem Auftrag der Kirche und dem Evangelium treu zu bleiben?

 

Es ist für Pfarrerinnen und Pfarrer unumgänglich, dass ein solches Nachdenken theologisch verantwortet wird. Und es ist gut, wenn man dabei nicht auf sich allein gestellt bleibt. Dafür gibt es die Bayerische Pfarrgeschwisterschaft.

 

Mit der eigenen Geschichte gilt es freilich, sich kritisch und selbstkritisch auseinanderzusetzen. Es geht dabei auch um die Geschichte unserer bayerischen Landeskirche insgesamt.

 

2. Im bayerischen Kirchenkampf

 

Die meisten führenden Köpfe der Pfarrerbruderschaft waren, wie auch der allergrößte Teil der bayerischen Pfarrerschaft, tief im antidemokratischen, nationalkonservativen, militaristischen und antisemitischen Geist der Kaiserzeit verwurzelt. Verbunden war dies mit der in Bayern vorherrschenden Ordnungstheologie damaliger Erlanger Prägung, wonach Familie, Volk, Vaterland und Obrigkeit in ihrem So-Sein als gute, natürlich gegebene Schöpfungsordnung Gottes galten.

Viele Pfarrer empfanden den Nationalsozialismus zunächst als eine zukunftsorientierte und zugleich den konservativen Werten verpflichtete Aufbruchsbewegung. Sie wollten die damit verbundene Gunst der Stunde, den angeblich von Gott geschenkten „Kairos“, nicht verpassen, und hofften so, die breiten Massen auch wieder für den Glauben zu begeistern.

Mit der Wahl von Hans Meiser als Landesbischof und Kirchenführer trugen Kirchenleitende und Pfarrer nicht nur dem damaligen Zeitgeist Rechnung. Indem man mit Meiser das Führerprinzip auch in der Kirche etablierte, sollte ein machtvolles Pendent zum NS-Staat geschaffen werden.

 

Nur wenige spätere Mitglieder der Pfarrerbruderschaft erkannten frühzeitig, also bereits vor der Machtergreifung 1933, den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus. Dazu gehörte Karl-Heinz Becker, der vor seinem Theologiestudium eine juristische Ausbildung absolviert hatte und deshalb ein besonderes Gespür für Unrecht hatte. Dazu gehörten Walter Höchstädter und Karl Steinbauer. Der Mordanschlag von Potempa (Oberschlesien) im August 1932 war für sie unabhängig voneinander der entscheidende Weckruf zum Umdenken. Ein SA-Schlägertrupp war dort in die Wohnung eines Kommunisten eingedrungen und hatte diesen vor den Augen seiner Mutter im Schlafzimmer totgetrampelt. Hitler feierte die brutalen Mörder als Freiheitskämpfer und diffamierte die juristische Aufarbeitung. Für Steinbauer und Höchstädter, deren Gewissen an die 10 Gebote gebunden war, lag damit der wahre Charakter des NS offen. Für die Meisten aber war die Grenze des Erträglichen endgültig erst dort erreicht, wo Volk und Rasse erkennbar vergötzt wurden, wo die Schriftauslegung wie bei den Deutschen Christen einer neuheidnischen Ideologie unterworfen wurde und wo der NS-Staat in das kirchliche Recht eingriff, um die Kirche gleichzuschalten.

 

110 Pfarrer waren dem Gründungsaufruf im Korrespondenzblatt gefolgt. Die Gründungsversammlung fand am 22. Mai 1934 in Rummelsberg statt, also eine Woche vor der Bekenntnissynode in Barmen, wo mit der Barmer Erklärung die theologische Grundlage der Bekennenden Kirche beschlossen wurde.

Dem ersten Bruderrat gehörten neben dem Senior Julius Schieder die Pfarrer Kurt Frör, Helmut Kern, Eduard Putz, Hermann Schlier und Hans Schmidt an; später wurde der Rat nach regionalen Gesichtspunkten erweitert.

 

Die Bruderschaft verstand sich nicht als kirchenpolitisch agierende Gruppierung neben anderen, sondern als geistliche Mitte der Kirche. Schon kurze Zeit nach der Gründung hatten bis zu 600 Pfarrer die „Grundsätze“ unterschrieben, das war fast die Hälfte der Pfarrerschaft in Bayern. Die Arbeit bestand vor allem darin, sich untereinander im Widerstand gegen die Ideologie der Deutschen Christen (DC) und gegen die Eingriffe des nationalsozialistischen Staates in die Kirche zu vernetzen. Die wichtigsten Ziele waren: dem Evangelium von Jesus Christus im Licht des lutherischen Bekenntnisses die Treue zu halten, geistliche Gemeinschaft zu pflegen und die Gemeinden im Kampf gegen die christuswidrigen Ideologien der damaligen Zeit zu stärken. Verfolgte außerhalb der Kirche waren kaum im Blick.

 

Sieht man das Gesamtbild, so grenzen viele Lebensäußerungen der frühen Pfarrerbruderschaft zumindest aus heutiger Sicht an ein Wunder:

 

  • In zentralen Aussagen nahmen die Pfingsten 1934 verabschiedeten „Grundsätze“ der Bayerischen Pfarrerbruderschaft die wesentlich von Karl Barth geprägte Barmer Theologische Erklärung vorweg. Es wird bestritten, dass es neben der Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift eine solche in Natur oder Geschichte, Blut und Rasse, Volk und Staat geben würde – „weder als Ersatz noch als Ergänzung“.

 

  • Genauso verhält es sich mit dem Grundsatz für die Kirchenleitung: „Gestalt und Hirtenamt der sichtbaren Kirche dürfen nicht einfach Kopie der staatlichen Verwaltungsgrundsätze sein (Führerprinzip), ... “. Das ist deshalb ein kleines Wunder, weil sich die Pfarrerbruderschaft gegenüber dem Führungsanspruch von Landesbischof Meiser in Wirklichkeit weitgehend loyal verhielt. Hier blieb der Grundsatz wenigstens ein Stachel im Fleisch der Praxis.

 

  • Obwohl viele Mitglieder von der lutherischen Theologie damaliger Erlanger Prägung herkamen, gab es einen entschiedenen Kampf der Pfarrerbruderschaft gegen die völkische Theologie des gegen Barmen gerichteten Ansbacher Ratschlages.

 

  • Die meisten Theologinnen gehörten der Bekennenden Kirche an. Mit Beschluss vom 20.8.1935 nahm der Bruderrat Theologinnen als gleichberechtigte Mitglieder auf. Bedenkt man das reaktionäre Frauenbild dieser Zeit, so war das ein mutiger und weitreichender Schritt. Nicht wenige spätere Vorkämpferinnen für die Frauenordination in Bayern waren von daher Mitglied in der Pfarrerbruderschaft: Liesel Bruckner, Ilse Hartmann, Elisabeth Wolf, Annemarie Hahn, Marianne Pflüger.

 

Es waren vor allem von Karl Barth inspirierte Mitglieder, die Beziehungen auch zu Widerstandskreisen außerhalb der Bayerischen Pfarrerbruderschaft pflegten und die dann auch weitergingen als andere. Drei Beispiele:

Das Bruderratsmitglied Kurt Frör schloss sich dem Widerstandskreis von Albert Lempp an, dem Verleger des Christian-Kaiser-Verlages in München. Dieser Kreis unterhielt ein Hilfsnetz für rassisch verfolgte Christen und Juden.

Walter Höchstädter, der als Vikar in Neu-Ulm Kontakte zu Mitgliedern der auch mit Lempp verbundenen Kirchlich-Theologischen Sozietät in Württemberg um Hermann Diem hatte, übte im NS-verseuchten Kulmbach Solidarität mit bedrängten und bedrohten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, soweit es die Umstände zuließen.

Karl Steinbauer hat aufgrund seiner Bindung an Schrift und Gewissen nie ein Blatt vor den Mund genommen und dabei weder die Nazis, noch die in seinen Augen allzu obrigkeitshörige Kirche, noch sich selbst geschont. Sein Leitmotiv hieß „Einander das Zeugnis gönnen“. Dieses „Zeugnisgönnen“ hatte Amtsenthebung, Predigtverbot und mehrfache Haft zur Folge. Seine öffentliche Verweigerung des Ariernachweises mit dem Verweis auf den jüdischen Christus brachte ihn 1939 für neun Monate ins KZ Sachsenhausen. Auch nach dem Krieg blieb er Mahner und Mutmacher für Kirche, Pfarrbruderschaft und Gesellschaft. Mitglieder der Erlanger Fakultät ehrten ihn für die Klarheit und theologische Konsequenz seines Denkens mit der Festschrift „Gott mehr gehorchen“ anlässlich seines 80. Geburtstages, die 1986 im Claudius Verlag erschien.

 

Nur zwei Fragen und eine Erfahrung möchte ich andeuten, die für heute bleiben: Welche Theologie ermöglicht es, klar zu sehen und klar zu handeln? Wie beantworten wir für uns selbst und in der Kirche die Frage nach Anpassung oder Widerstehen um der Mitmenschen willen? Wer bewusst und sensibel versucht, Zeitgenossenschaft zu leben, wird spüren, wie schwer es fällt, sich aus unguten Verstrickungen zu lösen.

 

3. Der Weg der Pfarrgeschwister in der Nachkriegszeit

 

Viele Zeitzeugen berichten, dass der Wiederbeginn nicht leicht fiel. Nach einigem Zögern erst erfolgte 1946 die Einladung zur ersten Pfingsttagung nach dem Krieg. Die führenden Köpfe der Pfarrerbruderschaft waren sich nicht sicher, welchen Sinn die Bruderschaft in Zukunft haben könnte, schließlich hatte sich der „einigende Feind, die Deutschen Christen in Nichts aufgelöst“ (Hermann Blendinger).

Themen für eine nachhaltige und kritische theologische Debatte gab es eigentlich genug: Stellung zur Stuttgarter Schulderklärung, Verhältnis zur Entnazifizierung, die Frage nach einer theologisch verantworteten politischen Buße, Aufarbeitung des weitgehend fehlenden Eintretens für die Juden und für Verfolgte außerhalb der Kirche, Stellung zum durch Landesbischof Meiser verkörperten Führerprinzip in der Kirche, zur Bekennenden Kirche außerhalb Bayerns, zur Barmer Theologischen Erklärung, zur Wiederherstellung überkommener Ordnungen. Es ist nicht so, dass dies alles keine Rolle spielte und dass man nicht auch die Auseinandersetzung mit Landesbischof Meiser suchte, z.B. als es um die Aufnahme von „Barmen“ in die Kirchenverfassungen oder um die Wiederbewaffnung unter dem Vorzeichen der atomaren Abschreckung ging. Aber insgesamt wirkt alles noch recht defensiv. „Hören auf das Wort, Treue zum Bekenntnis, Bruderschaft untereinander“, so fasst der langjährige Senior und Geschäftsführer Wilhelm Grießbach die neuen „Grundsätze“ von 1949 zusammen. Natürlich ist das elementar wichtig. Wenn er aber beklagte, dass in den Aufbaujahren „Recht und Ordnung mehr Raum gewannen als die eigentlich geistlichen Anliegen“, so stellt sich die Frage, ob das theologische Arbeiten gerade mit „Barmen“ nicht auch zu einer konstruktiveren Haltung hätte führen können. Denn anders als in der damaligen Erlanger Theologie gelten Institutionen dort nicht in ihrem So-Sein als Schöpfungsordnung, sondern werden danach beurteilt, ob sie ihrer Aufgabe gerecht werden, nach Gottes Willen für Recht und Frieden zu sorgen (Barmen 5). Demgemäß sind sie auch zeitgemäß veränderbar.

 

Ein durchaus mutiges Zeichen setzte die Pfarrerbruderschaft 1950, als sie im ehemaligen KZ Flossenbürg eine Gedenktafel für Dietrich Bonhoeffer anbrachte. Mutig, weil Bonhoeffers Widerstand, seine Kontakte zum Ausland und insbesondere seine Haltung zum Tyrannenmord in der Nachkriegszeit umstritten waren, gerade bei lutherischen Theologen. Die Predigt hielt der damalige Senior und spätere Landesbischof Hermann Dietzfelbinger.

Und Pfingsten 1957 lud man trotz des Protestes der Erlanger Fakultät zur Frage der neuen Agende ausgerechnet Karl Barth ein, der so gar nicht ins konservativ-lutherische Milieu passte. „An der Tagung nahmen mehrere hundert Schwestern und Brüder teil, soviele wie nie zuvor und nie hernach. Unter ihnen war trotz vorangehender Differenzen mit Barth ... auch Landesbischof Dietzfelbinger.“ (Hermann Blendinger). Manchen Pfarrgeschwistern war die Agende von 1954 nämlich viel zu restaurativ ausgerichtet. Sie fanden außerdem, diese Gottesdienstordnung sei den Gemeinden von oben herab übergestülpt worden. Von solchem Protest ausgehend wurden Erneuerungen entwickelt, wie sie das gemeinsame gottesdienstliche Feiern bei späteren Tagungen prägten.

 

4. Nach 1960

 

Eine konstruktive theologische Arbeit an den Herausforderungen der Zeit erfolgte spätestens ab Mitte der 60er Jahre; dass man also nicht immer nur defensiv reagierte, wie es bei der Abwehr der Deutschen Christen in der Kirchenkampfzeit nötig war. Die Mehrheit der Pfarrgeschwister begriff, dass die Situation der Kirche in einer modernen demokratischen Gesellschaft eine andere ist als im totalitären Unrechtsstaat. So hat man mehrheitlich der antimodernistischen Versuchung durch die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ widerstanden, die gegen die historisch-kritische Exegese besonders im Sinne der existentialen Hermeneutik von Rudolf Bultmann und Ernst Fuchs gerichtet war, und wandte sich hier gegen die Feststellung eines Status Confessionis.

Die Tagungsreferenten dieser Zeit zeigen die Öffnung: Exegeten wie Eduard Schweizer und Hans-Walter Wolff, der liberal-antibürgerliche Hermeneutiker Walter Bernet aus Zürich, der Systematiker Jan Milič Lochman und der Pastoralpsychologe Joachim Scharfenberg waren Gesprächspartner bei Tagungen. Die Spitzenaussage in den 1967 diskutierten und 1968 verabschiedeten neuen „Leitsätzen“ lautete: „Wir finden uns nicht damit ab, dass überkommene Formen und Ordnungen kirchlichen Lebens den Sendungsauftrag Christi heute hindern.“

 

1968 wurde der Arbeitskreis Evangelische Erneuerung (AEE) gegründet. Das brachte der Pfarrbruderschaft nur vorübergehend einen Einbruch bei der Tagungsteilnahme. Vielmehr befruchteten sich beide gegenseitig; nicht wenige Mitglieder arbeiteten zeitweise sowohl im Leitenden Team des AEE als auch im Bruder- bzw. Geschwisterrat mit. Der Pfarrgeschwisterschaft aber ist es bis heute wichtig, ein primär theologisch arbeitendes Gesprächsforum zu sein.

 

5. Emanzipation und Konflikt

 

1955 wurde unter maßgeblicher Beteiligung der Pfarrerbruderschaft ihr bisheriger Senior Hermann Dietzfelbinger zum Landesbischof gewählt. Dieser hatte die Pfarrgeschwister in der Nachkriegszeit geistlich stark geprägt. Doch bald zeigten sich Risse. Vor allem Dietzfelbingers theologische Ablehnung der Frauenordination wurde immer mehr zur Belastung. Bei der Pfingsttagung 1973 suchte man schließlich nach intensivem internem Ringen gezielt den Konflikt und beauftragte Liesel Bruckner für den Gottesdienst mit der Verantwortung für die Abendmahlsfeier. Erst 1975 wurden dann endlich auch in Bayern Frauen als Pfarrerinnen ordiniert.

Auch zur Leuenberger Konkordie von 1973, mit der die reformatorischen Kirchen ihre Spaltung überwanden, hatten die meisten Mitglieder eine andere Auffassung als der Landesbischof und traten für die Einigung ein.

 

6. Hierarchiekritik

 

Die Frage der Hierarchie in der Kirche und das autoritäre Erbe, das Hans Meiser mit seinem Verständnis vom Bischofsamt hinterlassen hatte, wurde immer kritischer gesehen und die Barmer Theologische Erklärung immer wichtiger: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.“ (Barmen 4)

 

Immer dann, wenn Kirchenleitung nach Auffassung des Rates unangemessen in das Recht der Kirchengemeinden eingriff oder Amtsträger autoritär maßregelte, wurde energisch protestiert. So in zwei Fällen, die heute wie aus einer fernen Zeit kommend wirken, aber noch gar nicht lange zurück liegen:

1988 wurde ein Würzburger Studierendenpfarrer mit einem Amtszuchtverfahren belegt und zum Stellenwechsel genötigt, weil er ein lesbisches Paar gesegnet hatte. Der Rat der Schwestern und Brüder kritisierte, dass die Kirchenleitung den autoritären Weg ging, anstatt die Klärung der Sachfrage in theologischer, seelsorgerlicher und psychologischer Hinsicht herbeizuführen.

1996 beschloss der Kirchenvorstand von St. Markus in München, die Kirche für eine Techno-Nacht zur Verfügung zu stellen. Dieser Beschluss wurde vom Landeskirchenrat außer Kraft gesetzt. Der Rat wendete sich auch hier gegen eine solche Art des Eingreifens von oben in die Belange einer Kirchengemeinde. In beiden Fällen kam es zu einem klärenden Gespräch mit Landesbischof und Vertretern des Landeskirchenrates.

 

Auch in den Debatten um die Kirchenreformen seit den 90er Jahren bis heute reagierte die Pfarrgeschwisterschaft, vertreten durch ihren Rat, immer dann empfindlich, wenn die Kirche mit geistlich verbrämter struktureller Macht gesteuert und verändert werden sollte. Mit solchen Mitteln sollte auch keine kirchliche Erneuerung durchgesetzt werden.

 

7. Wichtige Themen bis heute

 

Mehrmals wurde das Verhältnis zwischen den Generationen, die Frage der Generationengerechtigkeit und die Perspektive des theologischen Nachwuchses gemeinsam mit den Betroffenen bearbeitet.

 

Das Ziel der Bewahrung der Schöpfung und die Entwicklung gerechter Wirtschaftsformen spielte immer wieder eine wichtige Rolle, ebenso über Jahrzehnte hinweg die Friedensfrage.

1986 fand die Januartagung in Wackersdorf statt, um sich vor Ort über den Widerstand gegen die in Bau befindliche Wiederaufbereitungsanlage zu informieren und dem damaligen Schwandorfer Pfarrer Gerhard Roth den Rücken zu stärken.

 

Immer wieder neu ging es um die Auseinandersetzung mit dem prophetischen Zeugnis der Heiligen Schrift.

 

Mit vielen sehr unterschiedlichen Referentinnen und Referenten und durchaus kontrovers wurde auch immer wieder über das Verhältnis „Christen und Juden“ sowie „Israel und Palästina“ diskutiert.

 

Nach 1989 suchte man intensiv das Gespräch darüber, wie die Erfahrungen der Kirchen in der ehemaligen DDR für den Einigungsprozess ihren Wert behalten könnten. Man traf sich mehrere Male mit Vertretern der ehemaligen kirchlichen Opposition in der DDR. Leider verlor diese dann aus verschiedenen Gründen schnell an öffentlichem und kirchlichem Gewicht. 

 

8. Prägendes und Kennzeichnendes abseits der Arbeitsthemen

 

Jenseits aller Themen soll nicht vergessen werden, wie sehr die kommunikativ ausgerichteten Gottesdienst- und Abendmahlsformen, wie sie u.a. Georg Kugler in der Gemeindeakademie entwickelte und dann beim Nürnberger Kirchentag 1979 im „Forum Abendmahl“ einbrachte, die Spiritualität der familienfreundlichen Pfingsttagungen bis heute bestimmt. Den Ausgangspunkt, die Pfingsttagung 1957 mit Karl Barth, habe ich beschrieben. Georg Kugler, der 2019 verstarb, war langjähriges Mitglied und arbeitete bis 1986 auch im Rat mit. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass er 1954 nach seinem Vikariat durch ein ÖRK-Stipendium die Möglichkeit erhielt, intensiv bei Karl Barth zu studieren.

 

Es ist ein Kennzeichen der Pfarrgeschwisterschaft, dass man sich Zeit dafür nimmt, wichtige Fragen sorgfältig und kontrovers zu diskutieren, um zu guten Ergebnissen zu kommen.

Zum Beispiel: Hätte Karl Steinbauer wirklich gewollt, dass ein mit seinem Namen verbundener „Preis für Zivilcourage“ verliehen wird, wie es der Pfarrbruderschaft 1997 angetragen wurde? Die Mehrheit stand dazu sehr kritisch. Viele sagten: Die Pfarrbruderschaft hätte gar kein Recht, in Steinbauers Namen einen solchen Preis zu verleihen. Das entband aber nicht davon, den Vorschlag ernst zu nehmen. Es wurde dann kein Preis, sondern ein schlichtes Zeichen, ein Hinweis zur Ermutigung: ein Fensterbild mit einer Zeichnung der Hoffnung und der Sehnsucht nach Freiheit, welche Steinbauer im Gefängnis angefertigt hatte. Seit dem Jahr 2000 wird mit diesem Zeichen solchen Menschen und Gruppen symbolisch der Rücken gestärkt, die sich um Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit bemühen und in der Öffentlichkeit für Menschenwürde und Menschenrecht engagieren, besonders, wenn sie deshalb angefeindet und bedroht werden.

 

Gar nicht leicht hat man sich über viele Jahre mit der Frage getan, welcher Name der Tatsache entspricht, dass es, anders als in der Landeskirche, fast von Anfang an ein geschwisterliches Miteinander von Männern und Frauen gab, der Name Bruderschaft aber eben auch eine biblisch-theologische Qualität und eine kirchengeschichtliche Dignität hat. Man denke nur an die Kirche der Böhmischen Brüder oder an die Christusbruderschaft Selbitz, die zum weit überwiegenden Teil aus Frauen besteht.

 

2012 wurde Susanne Böhringer zur ersten Seniorin gewählt. Die Namensänderung von 2022 in „Bayerische Pfarrgeschwisterschaft – Theologische Weggemeinschaft aus der Bekennenden Kirche“ stellt bewusst eine Kontinuität mit der 90-jährigen Geschichte her und zu ihrer Eigenheit, eine primär theologisch arbeitende Gemeinschaft zu sein. Ich selbst gehöre zu denjenigen, die eine solche Namensänderung in unserer Zeit als unumgänglich und notwendig ansahen. Zugleich erfolgte die Neugründung als Verein. Das war, was die Mitgliederzahl betrifft, ein riskanter, aber aus steuerrechtlichen Gründen notwendiger Schritt. Nach der neuen Satzung besteht auch für interessierte Nichttheologinnen und -theologen die Möglichkeit einer Mitgliedschaft.

Gegenwärtig wird der Geschwisterrat gleichberechtigt von Thomas Braun und Dr. Julia Illner als Senior und (stellvertretende) Seniorin geleitet, Geschäftsführer ist Mark Meinhard.

 

9. Persönliche Schlussgedanken

 

Die Pfarrgeschwisterschaft hat sich im Verlauf der letzten 90 Jahre immer wieder verändern und erneuern lassen, um dem Evangelium von Jesus Christus zu entsprechen. Ich bin dankbar für die kritischen, kreativen und widerständigen Theologinnen und Theologen, die sich in dieser Zeit in ihr engagiert haben. Es ist gerade bei zurückgehenden Theolog:innenzahlen wichtig, das Theologietreiben über die Herrschaft des Pragmatismus zu stellen und ein Forum gegen die Vereinzelung zu bieten. Von ihrer Struktur und ihren Möglichkeiten her kann die Pfarrgeschwisterschaft zwar keine aktivistische Gruppe sein, aber die gemeinsame theologische Arbeit gibt Anstöße und Ermutigungen für den Glauben und ein engagiertes Handeln vor Ort. Dabei fand ich es immer faszinierend, welche theologische Weite und Vielfalt die Grundorientierung auf die Barmer Theologische Erklärung hin ermöglicht. Die Pfarrgeschwisterschaft ist keine kirchliche Kaderschmiede, sondern sie pflegt einen offenen, möglichst herrschaftsfreien Austausch. Der frühere Senior Hans Harald Willberg hat es in einem Brief an einen Interessierten auf den Punkt gebracht: 

„Ihr Ziel ist es, politische Wachsamkeit mit biblischer Orientierung und persönlicher Spiritualität zu verbinden und so Geschwisterschaft zu praktizieren.“

 

Frieder Jehnes, Selb

 

Zu den verwendeten Quellen:

Ich habe um der Lesbarkeit willen bewusst auf einen Anmerkungsapparat verzichtet und nenne nur eine Auswahl der Quellen, die für mich neben meinem eigenen Archivmaterial wichtig waren:

 

  • Aufsatz in drei Teilen über die Pfarrerbruderschaft 1934-1976 von Wilhelm Grießbach, Johannes Viebig und Erwin Haberer, in: Nachrichten der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, 1976/ 31. Jg., S. 464-468

 

  • Hermann Blendinger: Bruderschaft gegen die Ohnmacht. Sechzig Jahre Bayer. Pfarrerbruderschaft. Überarbeitete Fassung des Vortragsmanuskriptes zur Veröffentlichung. Korrespondenzblatt August/September und Oktober 1994, S. 113-115 und 134-137

 

  • Ders.: Aufbruch der Kirche in die Moderne. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern 1945-1990. Stuttgart 2000

 

  • Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus.

Ausstellung der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte; verfügbar im Internet.

 

  • Björn Mensing: Pfarrer und Nationalsozialismus. Geschichte einer Verstrickung am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Göttingen 1998

 

  • Walter Höchstädter: Durch den Strudel der Zeiten geführt – ein Bericht über meinen Weg von der Monarchie und der Weimarer Republik durch das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg. Selbstverlag des Autors, Vertrieb: Verlag der Evang.-Luth. Mission Erlangen. Bubenreuth 1983.

 

  • Karl Steinbauer: Einander das Zeugnis gönnen. 4 Bände. Selbstverlag des Autors. Erlangen/Mülheim 1983-1987

 

Die Arbeiten von Grießbach, Viebig, Haberer und Blendinger werden neben einigen anderen Quellen auf der Homepage der Pfarrgeschwisterschaft der interessierten Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht.