Israel und die Kirchenverfassung

Stellungnahme der Bayerischen Pfarrbruderschaft

Der Rat der Schwestern und Brüder der Bayerischen Pfarrbruderschaft hat sich eingehend mit der geplanten Ergänzung der Kirchenverfassung beschäftigt und begrüßt das Vorhaben. Angesichts einer auch kontroversen Diskussion erscheint es uns wichtig, einen Weg zu finden, der sowohl der Intention der geplanten Änderung als auch begründeten Bedenken gegenüber dem Textentwurf gerecht wird. Unsere nachfolgenden Gedanken und Formulierungsvorschläge verstehen wir keineswegs als der Weisheit letzten Schluss. Sehr wohl aber hoffen wir, dass sie hilfreich sein mögen für den weiteren Gang der Diskussion.

Worum geht es?

Genau besehen geht es u. E. in dem Textentwurf um zwei wichtige Aussagestränge. Wenn erklärt wird, dass die ELKB mit der ganzen Kirche Jesu Christi "aus der tragenden Wurzel des biblischen Israel hervorgegangen" ist, ist damit eine Aussage kirchlicher Identität getroffen. Um die kirchliche Identität geht es auch, wenn von der "bleibende(n) Erwählung des Volkes Israel" die Rede ist. Damit wird ja deutlich, dass die Kirche ihre eigene Erwählung zwar in Unterscheidung zur Erwählung Israels, aber nicht im Sinn einer Ablösung (Substitution) dieser Ersterwählung versteht.

Anders verhält es sich mit dem letzten Halbsatz der Ergänzung ("und weiß   sich dem jüdischen Volk geschwisterlich verbunden"). Diese Relationsaussage soll gewiss eine besondere Verbundenheit betonen und jedem Antisemitismus wehren. Sie ist deshalb gewichtig, aber nicht im eigentlichen Sinn eine Identitätsaussage.

Die Aussagen trennen

Nach unserer Auffassung gehören in den Grundartikel nur solche Aussagen, die etwas mit der Identität der Kirche im engeren Sinn zu tun haben. So wird im Grundartikel die Teilhabe der ELKB an der "Gemeinschaft der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche" als Identitätsaussage benannt, während eingehendere Relationsaussagen erst in Art. 6 erfolgen. Analog dazu halten wir es für sinnvoll, das Thema "Israel" im Grundartikel auf Identitätsaussagen zu beschränken und somit den benannten letzten Halbsatz aus dem Grundartikel herauszunehmen. Für diesen Aussagestrang könnte ein eigener Artikel 6a vorgesehen werden, (Anm. 1) in dem dann präzisierend noch etwas mehr gesagt werden kann.

Unterschiedliche Volksbegriffe vermeiden

In der jetzigen Textfassung wird in einem einzigen Satz mit zwei unterschiedlichen Volksbegriffen operiert. "Volk Israel" verstehen wir primär als einen theol. Begriff, in dem es um die Beziehung einer bestimmten Menschengruppe zum Gott des Exodus und des Sinai geht. "Jüdisches Volk" hingegen meint eher eine ethnische Größe, zu der empirisch auch Menschen gehören, die sich (als "säkulare" Juden) nicht von dieser Gottesbeziehung her verstehen. Beide Begriffe sind je auf ihre Weise komplex und können, wenn sie zusammen angeführt werden, in ihrer Zuordnung zu Missverständnissen   führen. Wir plädieren deshalb dafür, in einem kirchlichen Verfassungstext sich auf den primär theol. Begriff "Volk Israel" zu beschränken.

Ein Formulierungsvorschlag

Aus den genannten sowie noch zu benennenden Gründen schlagen wir folgenden Wortlaut vor:

Im Grundartikel:

"Mit der ganzen Kirche Jesu Christi ist sie aus der tragenden Wurzel des biblischen Israel hervorgegangen. Sie bezeugt die bleibende Treue Gottes zu seinem ersterwählten Volk."

Als Artikel 6a:

"Stellung zum Judentum und zu den jüdischen Gemeinden.

(1) Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern beugt sich unter die Schuld, die weite Teile der Christenheit gegenüber den Juden auf sich geladen haben. Sie verurteilt alle Formen der Judenfeindlichkeit. (Anm. 2)

(2) Die Förderung und Pflege eines partnerschaftlichen Verhältnisses mit den jüdischen Gemeinden und ihren Verbänden sieht sie als wichtige Aufgabe an."

Weitere Begründungen

  1. Es ist theol. sachgemäß, von der "bleibende(n) Erwählung" zu reden. Unser Formulierungsvorschlag trägt dem inhaltlich in vollem Umfang Rechnung. Mit dem Begriff "ersterwählt" (Anm. 3) tritt allerdings deutlicher hervor, dass Israels Erwählung nichts etwas für sich allein zu Betrachtendes ist, sondern in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang steht. Um Gottes Heil für Israel und die Völker geht es bereits in vielen universalistischen Passagen des Alten Testaments, im Neuen Testament sodann besonders verdichtet in Röm. 9-11. Der Hinweis auf die Treue Gottes macht den Grund der Verlässlichkeit der Erwählung deutlich: Es geht nicht um menschliche Qualitäten, sondern allein um die Treue des sich erbarmenden Gottes. Wenn die bleibende Treue Gottes im Hinblick auf Israel fraglich wäre, dann wäre sie   letztlich auch im Hinblick auf die Kirche Jesu Christi fraglich.

  2. Den Hinweis, dass "mit der Heiligen Schrift" die bleibende Erwählung Israels bezeugt wird, halten wir für entbehrlich, weil im Grundartikel bereits an anderer Stelle hinreichend deutlich wird, worauf alles kirchliche Bezeugen zu beruhen hat. Sollte diese Formulierung bleiben, dann ist sie jedenfalls nicht einschränkend so zu verstehen, als ginge es nicht um die ganze Heilige Schrift. Sehr wohl geht es um das Zeugnis der Schrift in ihrer Ganzheit. Damit ist gewiss kein Abzählen von Bibelworten gemeint, sondern ein Bezeugen gemäß dem reformatorischen Grundsatz, dass die Schrift ihr "eigener Ausleger" (sui ipsius interpres) ist. Auch die Rechtfertigungslehre, auf die der Grundartikel an anderer Stelle Bezug nimmt, lässt sich 'nur' in dieser Weise als schriftgemäß erweisen.

  3. Wir bezweifeln, dass die Aussage, die ELKB wisse sich dem jüdischen Volk (als einer kollektiven ethnischen Größe) "geschwisterlich verbunden", angemessen ist. Können tatsächlich alle Juden diese Verbundenheitsbekundung so akzeptieren? In dieser Hinsicht plädieren wir für eine erheblich vorsichtigere Ausdrucksweise, wie es mit der vorgeschlagenen Formulierung für einen Art. 6a geschieht. Zugleich kommt es uns jedoch darauf an, Schuld beim Namen zu nennen und die hieraus folgenden Konsequenzen deutlich zu machen.

  4. Auch im Hinblick auf die jüdischen Gemeinden zögern wir, rundum von einer "geschwisterlichen Verbundenheit" zu reden. Dort, wo eine solche Verbundenheit tatsächlich wechselseitig(!) bekundet werden kann, darf dies dankbar zur Kenntnis genommen werden. Der Eindruck einer einseitigen Vereinnahmung darf aber auch hier nicht entstehen. So scheint es uns angemessener zu sein, das Bemühen um ein partnerschaftliches Verhältnis zu betonen.

  5. Ausdrücklich heben wir hervor, dass nach unserem Verständnis weder der vorliegende Textentwurf noch unsere Formulierungsvorschläge eine Aussage zur theol. Bewertung des Staates(!) Israel machen. Ein entschiedenes Ja zum Existenzrecht des Staates Israel ergibt sich christlicherseits gewiss aus der besonderen Verantwortung gegenüber den Juden, wie es in unserem vorgeschlagenen Art. 6a, Abs. 1 zum Ausdruck kommt. Nicht damit verbunden sind allerdings innerchristlich höchst umstrittene heilsgeschichtliche(!) Bewertungen der Staatsgründung. Schon gar nicht kann es Aufgabe einer Kirchenverfassung sein, Aussagen zum aktuellen Nahostkonflikt zu machen. Aussagen solcher Art können kirchlicherseits durchaus geboten sein, aber eben nicht in einem Verfassungstext. Wir weisen deshalb vorsorglich alle denkbaren Versuche (von welcher Seite auch immer) zurück, den Ergänzungstext der Kirchenverfassung zu instrumentalisieren und eine einseitige Parteinahme für oder gegen eine der Konfliktparteien herauszulesen.


Beschluss der Stellungnahme im Oktober 2010.

Im Namen des Rates der Schwestern und Brüder der Bayerischen Pfarrbruderschaft:

Dr. Karl Eberlein, Senior


Anm. 1) Einen Art. 6a hat bereits Dekan Dr. Reinhard Brandt ins Spiel gebracht (Korrespondenzblatt Aug./Sept. 10, S.149). Anders als Brandt sind wir allerdings der Meinung, dass dies kein umfassender Ersatz für den Ergänzungstext im Grundartikel selber sein kann.

Anm. 2) In diesem Abs. 1 lehnen wir uns - im Wortlaut etwas verändert - an eine Formulierung in der Grundordnung der Evang. Landeskirche in Baden an (Abschn. I § 2 Abs. 3).

Anm. 3) Der Begriff "ersterwählt" findet sich z.B. auch in der Verfassung der Evang. Kirche der Pfalz (Art. 1, Abs. 3).